Sertralin

Erfahrungen mit Medikamenten, Fragen, Infos, Tipps, ...

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Marika
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Re: Sertralin

Beitrag von Marika »

Hallo...

Also ich fang mal an: im Gehirn arbeiten viele sogenannte Botenstoffe die alle Eindrücke von außen aufnehmen und in das jeweils richtige Gehirnareal weiterleiten in dem das ganze dann verarbeitet wird und Gefühle und Emotionen zur Folge hat. Das ist jetzt sehr vereinfacht dargestellt. Bei einer psych. Erkrankungen sind diese Botenstoffe zu wenig vorhanden, nicht alle aber einer reicht schon. Sehr oft handelt es sich dabei um das Serotonin. Anhand der Symptome kann der Arzt in etwa erahnen welche Botenstoffe betroffen sind und das passende AD verschrieben. Wenn also die Botenstoffe nicht passen, können sie natürlich auch ihre Arbeit nicht korrekt ausführen... Informationen von außen werden falsch oder gar nicht weitergeleitet und es kommt plötzlich zu Gedanken, Gefühlen und Emotionen die überhaupt nicht zur Realisierung passen... z.b. eben Ängste. Das ist wieder sehr vereinfacht dargestellt, aber gut zu verstehen.

Das Medikament greift nun genau dort ein: es hält in deinem Fall das Serotonin fest, damit es nicht wieder zu schnell verschwindet (Botenstoffe werden jeden Tag auch verstoffwechselt und neu gebildet, genau das funktioniert bei uns nicht richtig, es wird zu schnell abgebaut und viel zu langsam aufgebaut) sondern an Ort und Stelle bleibt um Arbeiten zu können. Das Dauert ein paar Wochen, weil dieser Prozess Zeit braucht und auch von der Dosis abhängig ist. So wird der Botenstoffwechsel langsam wieder auf gesund hergestellt.

Auslöser für Depressionen u.w. sind vielfältig: Hormone, Stress (zuviel Stresshormone im Blut wirken sich negativ auf die Botenstoffe aus), genetische Veranlagung, Traumata, auch Vitamin D Mangel ist schlecht... meist ist es nicht ein Auslöser sondern mehrere....

Das Medikament ist dann richtig, wenn die Erstverschlimmerung langsam weicht und dann langsam auch gute Momente eintreten. Manchmal merkt man erst, dass man wieder essen mag, ein bisschen besser schläft, oft fällt die Verbesserung auch den Mitmenschen auf und man selber registriert noch gar nix. War bei mir so.

Die Genesung verläuft in Wellen... leider. Das heißt es geht nicht linear nach oben, sondern gerade am Anfang wechseln sich gute und schlechte Phasen ab. Das ist zermürbend, aber völlig normal. Denn wir sind ja immer auch Stress von außen ausgesetzt und das spürt man einfach. Man muss tatsächlich sehr viel Geduld haben und neben den Medikamenten sich viel Gutes tun.

Das Morgentief ist ein Symptom das meist am längsten braucht um sich aufzulösen, logisch weil am Morgen der Botenstoff Spiegel am niedrigsten ist. Mir hat hier tatsächlich Ablenkung geholfen: so schwer es auch war, ich hab mich und den Kleinen angezogen und bin raus in die Stadt, oft habe ich da andere Mamas getroffen oder sonst meine Mama, meine Tante... das hat geholfen. Es war extrem schwer gerade am Morgen, aber ich habe es durchgezogen und plötzlich wurde es ganz normal. Ich habe mir auch immer einen Tagesplan geschrieben was ich wann tue... also den Tag STRUKTURIERT! Hilt sehr um dem Grübeln hin und wieder zu entkommen.

So, das Mal von mir... Alibo hat sicher noch mehr im Köcher...😄😄😄
Liebe Grüße von
Marika

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schwere PPD 2005
heute völlig beschwerdefrei mit 10 mg Cipralex
alibo79
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Re: Sertralin

Beitrag von alibo79 »

Moin moin, ich versuche jetzt mal deine Fragen zu beantworten.
Zur Gehirn Chemie, ganz einfach erklärt. Man hat ja im Gehirn unmengen an Nerven, die miteinander verknüpft sind. Damit die gut zusammenarbeiten braucht es verschiedene botenstoffe, Rezeptoren dafür, Ionen, Enzyme, Verknüpfung zwischen den Nerven usw.
Bei Depressionen oder anderen psychisch Erkrankungen ist dieses zusammenarbeiten gestört. Es gibt Bereiche im Gehirn, die dann überaktiv sind oder sich verkleinern und runterreguliert werden, es gibt oft zu wenig botenstoffe oder an anderen Bereichen zu wenig Rezeptoren dafür oder auch ein zuviel in anderen Bereichen. Dadurch entstehen die Symptome wie traurig sein, Ängste, wenig Antrieb oder Gefühle, das morgentief, innere unruhe usw.
Durch die Medikamente wird dieses Ungleichgewicht langsam behoben.
Es werden mehr botenstoffe bereitgestellt bzw sie werden nicht so schnell abgebaut.
Es werden neue Nerven Zellen gebildet und die richtigen Verknüpfung wieder hergestellt.
Das ist auch der Grund warum AD nicht sofort wirksam werden können, denn Nerven Zellen wachsen langsam und auch die Verknüpfungen brauchen bis sie sich gebildet haben und gefestigt sind.
Das ist auch ein Grund warum die Genesung nur langsam voran geht.
Durch deine hormonelle Behandlung für die Schwangerschaft ist natürlich auch massiv in das System eingegriffen worden, was zu Veränderungen im Gehirn führt. Zudem der ganze Stress damit führt zu einem dauerhaft erhöhten Spiegel an Stress hormone im Blut. Man weiß, dass zu hohe Spiegel an cortisol im Körper zu diversen Erkrankungen führt ua auch depressionen, da es sich negativ auf die Gehirn Chemie auswirken kann.
Zum morgentief, in der Nacht wird Melatonin zum schlafen ausgeschüttet, und das Serotonin dadurch reduziert. Bei psychischen Erkrankungen ist morgens der Wechsel von Abbau des Melatonin und Aufbau des Serotonin gestört, meist wird das Serotonin deutlich verzögert frei gesetzt und dadurch kommt es zum morgentief, mit schlechter Stimmung, Ängste, unruhe, frühes erwachen, Müdigkeit usw.
Was dagegen hilft speziell für dich, dass must du quasi selbst herausfinden. Allgemein ist es aber so, dass Bewegung, Licht, frische Luft, und andere Formen zur Aktivierung es deutlich lindern.
Ich habe auch immer lange mit dem morgentief gekämpft. Ich habe irgendwann gemerkt, dass es sich bei mir zwischen 10 Uhr und halb elf zurück ging, das konnte ich wirklich merken, morgens war ich echt unten mit düsteren Gedanken und dann um kurz nach 10 war es wirklich wie ein Schalter der umgelegt wurde und das düstere verschwand und um 11 Uhr habe ich immer gedacht, was hattest du eigentlich für Probleme heute morgen.
Das hat mir echt geholfen, dass ich wusste es wird dann wieder besser, so konnte ich morgens mich besser aufraffen und aktiv werden.
Liebe Grüße
2014 schwere PPD mit Ängsten, 6 Monate Tagesklinik
2015- 2019 mirtazapin, erst 45mg ab 2017 langsam reduziert
Zwischendurch versuch mit citalopram, nach 2 Monaten abgesetzt, da starke Verschlimmerung der Depression
Anfang 2021 erneut schwere Depression wieder 45 mg mirtazapin zusätzlich noch quetiapin 150mg
Über Jahre zusätzlich noch psychotherapeutische Behandlung
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Marika
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Re: Sertralin

Beitrag von Marika »

Danke Alibo, du hast das viel besser und umfangreicher erklärt 👍👍👍
Liebe Grüße von
Marika

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alibo79
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Re: Sertralin

Beitrag von alibo79 »

Hey Marika, ich habe gerade erst gesehen, dass du da auch schon antworten geschrieben hast, nicht dass du denkst ich will hier den schlauberger spielen, ich hatte es nur noch nicht gelesen und einfach so ein paar Gedanken zur Gehirn Chemie aufgeschrieben. Aber doppelt hält ja bekanntlich besser und vielleicht können wir beide Bienchen so ihre Fragen beantworten 😄😄👍👍
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Marika
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Re: Sertralin

Beitrag von Marika »

Liebe Alibo,

Du hast das soooo super geschrieben, bitte mehr davon, das Forum braucht Frauen wie dich... inteligente, blitzgescheide Frauen wie dich ❤❤❤
Liebe Grüße von
Marika

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Bienchen

Re: Sertralin

Beitrag von Bienchen »

Hallo

Also ihr habt das echt Klasse beschrieben. Es steckt ja wirklich eine organische Erkrankung dahinter. Als ich mit meinen Hormonen angefangen habe und die massiven Schlafstörungen ( ich lag wirklich ganze Nächte wach), da habe ich so ein Gefühl gehabt, irgendwas kann gerade nicht funktionieren. Und einen Einfluss durch Verhalten, hat man dann nur bedingt, oder?
Ich bin soo dankbar für dieses Forum und das es so tolle und liebe Menschen hier gibt.
Die letzte Nacht musste ich nochmal zum Schlafen nachhelfen. Aber dann ging es echt gut. Seit heute habe ich eine deutlichere Ruhe in mir und hat Vormittags sogar positive Gefühle, etwas Zuversicht. Danke, danke danke❤️❤️
alibo79
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Re: Sertralin

Beitrag von alibo79 »

Marika hat geschrieben: 14:02:2023 13:37 Liebe Alibo,

Du hast das soooo super geschrieben, bitte mehr davon, das Forum braucht Frauen wie dich... inteligente, blitzgescheide Frauen wie dich ❤❤❤
Danke liebe Marika für das nette Kompliment 🥰🤩
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Marika
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Re: Sertralin

Beitrag von Marika »

Genau Bienchen, mit dem Verhalten kannst du fast gar nicht gegensteuern, wenn du akut drinnen steckst. Der berühmte Spruch "reiß dich zusammen, du musst nur Wollen" ist nicht umsetzbar, die körperlichen Voraussetzungen im Gehirn sind einfach nicht gegen. Wir sind nunmal auch chemische Wesen und ein großer Teil unseres Denkens und Fühlens sind das Ergebnis des chemischen Zusammenspiels im Gehirn.

Natürlich kann man in einer Therapie viel an Verhalten aufdecken und dazu lernen, das Gehirn ist plastisch veränderbar, das ist bewiesen. Das setzt aber voraus, dass man wieder ein bisschen Boden unter den Füßen hat.
Liebe Grüße von
Marika

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Bienchen

Re: Sertralin

Beitrag von Bienchen »

Liebe Marika

Deine Erklärungen machen verständlich, daß man sich auch so machtlos, hilflos fühlt. Was mir sehr geholfen hat, ist die Erklärung der wellenartigen Heilung. Das kennt man von anderen Erkrankungen nicht und deshalb sage ich mir, wenn es wieder schlechter geht, ist das eine Welle. Sie wird wieder abflauen. Hängt das mit den ganzen chemischen Vorgängen zusammen?
Liebe Grüße
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Re: Sertralin

Beitrag von Marika »

Kann man glaube ich so sagen. Wie Alibo so toll ausgeführt hat, müssen sich zum Teil neue Verbindungen und Verknüpfungen bilden und das dauert. Trotzdem haben wir natürlich tagtäglich mit Stress und Belastungen von außen zu tun. Ist der gerade Anfangs zuviel, merkt man das... das System ist dann einfach noch sehr empfindlich. Wie ein gebrochenes Bein, das ist dann zwar wieder heil und der Gips ist ab... aber Marathon kann man dann natürlich noch lange nicht laufen. Man muss Muskeln wieder aufbauen...usw. übertreibt man es,.schmerzt das Bein wieder....
Liebe Grüße von
Marika

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Re: Sertralin

Beitrag von alibo79 »

Ganz genau so ist es, das Gehirn muss erst wieder trainiert werden. Man spricht da von neuronaler Plastizität. Die ist bei Depressionen herabgesetzt und das bedeutet, dass unser Gehirn nur verzögert auf stressoren reagieren kann, was dazu führt dass es unter Stress wieder zu Symptome kommt, bzw nach Stress Situationen. Einfach gesagt, Es bauen sich quasi durch den Stress nerven ab und nur verzögert also langsamer als bei gesunden wieder auf. Dadurch auch dieser Wellen Verlauf. Desto gesunder man wird, desto besser und schneller kann das Gehirn wieder reagieren.
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Marika
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Re: Sertralin

Beitrag von Marika »

Also Alibo durch dich habe ich nochmal jetzt so viel dazu gelernt, Wahnsinn. In meinem Gehirn haben sich durch deine Antworten einzelne Fakten kompletiert und es ergibt noch mehr Sinn als davor. Ich möchte dir dafür einfach DANKE sagen...❤❤❤
Liebe Grüße von
Marika

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Erdbeerchen

Re: Sertralin

Beitrag von Erdbeerchen »

Liebes Bienchen,

Mir geht es ganz ähnlich wie dir! Am schlimmsten wagen bisher Tag 7 und 8 - ich hatte so viele Symptome, Panik, dass ich uns Krankenhaus gefahren bin um es abzuklären. Dachte ich bekomme einen Herzinfarkt. Da ich davor 1 Jahr keine Panik hatte war ich zwar rational überzeugt dass es am Medikament liegt, aber beruhigt hat es mich in der Spirale nicht mehr.

Ich bin heute bei Tag 12, gestern war super, heute leichte unterschwellige Angst. Wie geht es dir mittlerweile?
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