Traurig
Verfasst: 11:02:2009 16:45
von mici
Ich bin 28 Jahre alt und habe Anfang Oktober 2008 meine erste Tochter zur Welt gebracht.
Die Geburt war durchschnittlich, sie ging relativ schnell vonstatten, verlief aber nicht ganz ohne Komplikationen und immer an der Grenze zum Kaiserschnitt. Schließlich gelang es unserem Mädchen trotz „Sternengucker-Position“ und mit Hilfe der Saugglocke auf natürlichem Wege auf die Welt zu kommen, doch musste sie auf Grund von Atmungsstörungen und Fieber direkt auf die Säuglingsintensivstation gebracht werden, um dort eine Woche lang mit Antibiotika behandelt zu werden. Inzwischen erfüllt sie hinsichtlich ihrer Entwicklung die Norm und die ersten drei Monate ihres Lebens verliefen dann auch relativ gleichmäßig.
Doch mit Beginn des Jahres trat eine Veränderung ein in den bis dahin einigermaßen ruhigen Alltag. Es begann damit, dass ich zunehmend an Einschlafstörungen litt. Meist wartete ich darauf, dass meine Tochter das erste Mal in der Nacht wach wurde, um gestillt zu werden, weil ich fand, dass sich das Einschlafen vorher auch gar nicht lohnte. Doch auch nach der Mahlzeit lag ich wach und konnte plötzlich die ganze Nacht kein Auge mehr zu tun. Tagsüber versuchte ich Schlaf nachzuholen, wenn mein Mann mit der Kleinen spazieren ging. Doch kam ich auch da nicht zur Ruhe, im Gegenteil, mein Herz pochte bis zum Hals und allein die Vorstellung, mich in die Waagerechte zu begeben, sorgte für eine innere Unruhe, die kaum zum Aushalten war. Ich begann dann meistens wie wild im Haushalt herumzuräumen und lief in der Wohnung herum wie ein aufgescheuchtes Huhn.
Nach einigen Tagen und durchwachten Nächten, war ich so „auf“, dass ich heulend meine Gynäkologin anrief, die sofort eine PPD diagnostizierte. Ich weiß auch nicht, wie sie darauf kam – sie hatte sofort den richtigen Riecher und verwies mich an einen Neurologen und Psychiater, der mir Tavor 0,5 mg verschrieb. Er verpflichtete meinen Mann, unserer Tochter nachts mit abgepumpter Milch die Flasche zu geben, damit ich mich mit Tavor mal so richtig zum Schlafen bringen und wieder Kraft schöpfen konnte. Erst sah es so aus, als hätte ich nur ein sehr großes Schlafdefizit, doch auch nach einigen Nächten mit Tavor wollte diese Unruhe einfach nicht weichen, eher weitete sie sich sogar aus und mittlerweile erstreckt sie sich über den ganzen Tag. Ich weiß gar nicht, wohin vor lauter Herzklopfen.
Inzwischen muss ich auch wieder die Nächte übernehmen, weil mein Mann berufstätig ist und weil die Kleine zwischenzeitlich vier, fünf Mal pro Nacht wach wird, so dass auch mein Mann ein Schlafdefizit aufgebaut hat, was er sich aber beruflich nicht leisten kann. Er nächtigt oft auf der Wohnzimmercouch und wenn ich morgens aufstehe, hat er das Haus schon verlassen. Ich weiß dann oft gar nicht, wie ich überhaupt den Tag beginnen soll, ich heule unter der Dusche und bin froh, dass mich meine Tochter dann nicht sieht und nicht hört. Ebenso wenig bekomme ich mit, dass sie nach mir ruft. Wenigstens diese 10 Minuten lang….
Irgendwie vergehen die Tage dann doch einer nach dem anderen, ich kann abends oft gar nicht sagen, womit wir beschäftigt waren. Doch wenn mein Mann nachmittags heim kommt, guckt er mich erwartungsvoll an, ob sich schon eine Besserung abzeichnet, aber ich muss ihn jedes Mal enttäuschen.
Als klar war, dass ich außer einem Schlafdefizit noch mehr Schwierigkeiten hatte, verschrieb mir mein Neurologe bald darauf Mirtazapin, was ich momentan in einer Dosierung von 30 mg nehme. Seit gestern habe ich tendenziell das Gefühl der Besserung – ich drücke das absichtlich so vorsichtig aus, weil ich dem Frieden nicht traue, aber meine Hoffnung wächst, dass es wieder bergauf gehen könnte.
Seit gestern weiß ich auch, dass ich eine starke Schilddrüsenüberfunktion habe, mein TSH-Wert liegt bei 0,02. Daher resultiert wahrscheinlich auch ein Großteil meiner Unruhe. Die Depression an sich hat ihre Ursachen sicherlich in meiner grundsätzlichen Neigung dazu.
Mein Neurologe meint, dass ich mit Tavor und Mirtazapin auf jeden Fall noch stillen kann. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich kann ihm nur vertrauen. Um meine Schilddrüse richtig einzustellen, werde ich wohl auf abstillen müssen, aber so einfach wird das nicht werden. Sie verweigert die Flaschenmilch. Auch abgepumpte Milch nimmt sie nicht mehr. Wir üben seit einer Woche mit dem Löffel zu essen. Aber es wirkt noch so unpassend. Sie ist doch noch so klein, trinkt auch eigentlich gut an der Brust, erst links, Bäucherchen, wickeln, dann rechts. Kein Theater. Es gibt so viele Dinge, die gut laufen.
Ich möchte auf jeden Fall wieder runter von den Schlaftabletten, hab natürlich total Angst, dass ich abhängig werden könnte, oder vielleicht schon bin??!
Ich empfinde mein Leben momentan als riesige Baustelle. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, für Ordnung zu sorgen!
Verfasst: 26:12:2011 11:41
von mici
Gut drei Jahre nach der Geburt unserer ersten Tochter und kurz vor der Geburt unserer zweiten möchte ich diesen Erfahrungsbericht einer PPD einstellen.
Endlich sind wir nun zu dritt! Anfang Oktober 2008 kam – pünktlich zum Stichtag – unsere Tochter zur Welt. Ich hatte einen problemlosen Schwangerschaftsverlauf, habe mich „rundum“ wohlgefühlt und mich täglich neu auf den Nachwuchs gefreut. Auch mein Mann konnte zunehmend Vorfreude entwickeln, während ihm anfänglich das neue Leben in mir noch fremd und fremdartig erschien. Doch je runder ich wurde, je spürbarer auch die Tritte wurden, die durch meine Bauchdecke zu erfühlen waren, desto faszinierender wurden Schwangerschaft und bevorstehende Geburt für uns beide.
Wir gönnten uns eine Beleghebamme, welche mich bereits von Beginn der Schwangerschaft an neben der Gynäkologin mitbetreute und zu der wir beide ein vertrauensvolles Verhältnis aufbauten. Schwangerschaft und Geburt wurden so für uns zu einer Selbstverständlichkeit. Wir hatten großes Vertrauen, dass „schon alles gut gehen würde“, dass ich die Geburt gut überstehen würde und wir beide uns in unserer neuen Elternrollen gut zurechtfinden würden. Als sich unsere Kleine schließlich ankündigte, war ich froh, ja fast übermütig und vor allem neugierig auf den Kreißsaal und die Geburt. Es verlief alles planmäßig, bis ich in den letzten beiden Stunden der Geburt Fieber entwickelte und schließlich auch unsere Tochter mit 38,5 Grad Celsius auf die kam. Weil sie Atmungsstörungen und eine erhöhte Herzfrequenz hatte wurde sie sofort auf die Intensivstation gebracht, wo sie wegen erhöhter Infektionswerte eine Woche lang mit Antibiotika behandelt wurde.
Doch wir trugen es mit Fassung. Nachdem ich auf der Wöchnerinnenstation entlassen wurde, checkte ich auf der Neugeborenenintensivstation ein und teilte mir mit meiner Tochter zum ersten Mal ein Zimmer. Sie lag, streng überwacht, in einem Wärmebettchen, bekam Sauerstoff und alle vier Stunden abgepumpte Muttermilch.
Nach einer Woche wurden wir entlassen. Heute entspricht ihre Entwicklung der absoluten Norm und bis auf eine erhöhte Infektanfälligkeit ist unsere Tochter kerngesund!
Meine momentane Lebenssituation sieht in erster Linie die Versorgung unserer Tochter vor, und um geistig nicht völlig zu erlahmen, hatte ich mir vorgenommen, während ihrer Schlaf- und Ruhephasen, das Studium zu beenden. Reiner Luxus, so erschien mir mein Leben noch während der Schwangerschaft. Ohne finanzielle Nöte und in mitten der Stadt Hamburg würde ich zwischen Campus und Stillgruppe, zwischen Bibliothek und Rückbildungskurs wandeln und meine freie Zeit Kaffee trinkend und Kinderwagen schiebend mit anderen Müttern auf einer Parkbank zubringen. Und wie glücklich durften wir uns überhaupt schätzen, dass es mit dem Kinder kriegen so schnell geklappt hat – viele unserer Freunde und Bekannte hatten doch solche Schwierigkeiten!
Unsere Tochter, ein Winterkind, verbrachte somit die ersten Monate ihres Lebens in ihrem Kinderwagen, in dem sie von mir durch die Gegend geschoben wurde und dadurch jeden Tag mehrere Stunden frische Luft bekam. Ich wollte unseren Freunden, die im Speckgürtel von Hamburg eine Doppelhaushälfte erstanden hatten und mit ihren zwei gesunden Kindern im Garten Teiche aushoben, Trampoline aufbauten und Lagerfeuer machten in nichts nachstehen, was den „Frischluftkonsum“ meiner Tochter anging. Märsche von teilweise über 12 km Länge absolvierte ich an den Vormittagen, während mein Mann bei der Arbeit war. Im Korb unter dem Kinderwagen hatte ich Proviant und Wechselklamotten für alle Fälle, eine Thermoskanne heißen Tee und eine Decke, um ggf. an sonnigen Wintertagen auf einer Parkbank interessante Lektüre für mein Studium durchzuarbeiten.
Die ersten 12 Wochen nach der Geburt verlief mein Leben nach diesem Muster. Voller Vorfreude und mit roten Wangen erwartete ich nachmittags meinen Mann zurück, um mit ihm noch einige Einkäufe zu erledigen, die wir dann gemeinsam in den dritten Stock trugen. Der dritte Stock, ein Kompromiss zwischen urbaner Wohnkultur und finanzierbarem Wohnraum mitten in der City. Dieses Familienidyll setzte auch bei ihm Kräfte frei und wir fielen uns regelmäßig in die Arme, konnten unser Glück kaum fassen!
Doch seit Jahreswechsel wurden unsere Nächte immer kürzer. Nachdem unsere Tochter schon 4 Stunden am Stück geschlafen hatte und somit nur zwei, höchstens dreimal pro Nacht wach wurde, um gestillt zu werden, erklärten wir uns die neuerliche nächtliche Unruhe mit einer Wachstumsphase. „Entwicklungsschub“ verbesserte uns unsere Hebamme und mahnte zur Geduld. Nun, man war auf das Schlimmste gefasst. Von Schreibabys hatten wir gehört und uns nötigenfalls die Hotline der nächstgelegenen Ambulanz an den Kühlschrank geklebt. Auch der Horror der „Drei-Monats-Koliken“ durchfuhr als Schreckgespenst unsere vier Wände. Von anderen Müttern hatten wir gehört, dass diese ihre Babys auf die schleudernden Waschmaschine stellen mussten, um ihnen in den Schlaf zu helfen und auch die Autofahrt um den Häuserblock gehörte zum Standardwerkzeug vieler junger Eltern. Doch davon waren wir weit entfernt. Bis auf häufiges Aufwachen, durstiges Trinken an der Brust, um danach sofort wieder einzuschlafen, hatte sich an dem Verhalten unseres vorbildlichen Babys nichts geändert. Sollte das alles sein? Jeder Abend verging damit, dass mein Mann und ich uns die uns bevorstehende Nacht ausmalten und dabei immer unruhigere Zeiten prognostizierten. Die Abstände zwischen den Mahlzeiten würden wohl noch kürzer werden, als sie ohne hin schon waren, befürchteten wir. Und: Irgendwann wird sie sich gar nicht mehr hinlegen lassen, ohne dass sich einer von uns zu ihr gesellt.
Doch unsere Nächte wurden nicht immer schlimmer, nur mein Mann und insbesondere ich blieben in dieser Erwartungshaltung gefangen. Jeder Mucks, den die Kleine von sich gab, jedes Röcheln, Schnaufen, Stöhnen,…wurde als Aufforderung von uns Eltern interpretiert. Sollte sie etwa inzwischen nicht mehr satt werden an meiner Brust? Wahrscheinlich brauchte sie mehr Milch, mutmaßte ich und riss die Kleine aus ihrem Bett heraus, um ihr erneut die Brust anzubieten. Erst einmal richtig satt, ließen sich sicherlich auch wieder längere Schlafphasen erreichen, frohlockte ich und nahm ruhig in Kauf, dass mir aufrecht sitzend im Bett das Schlafen verwehrt wurde. Wann immer ich L. anlegte, sie trank gierig und hungrig. Voller Wohlbehagen und Genuss trank sie, bis sie in meinen Armen in den Schlaf sank. Also doch, dachte ich. Sie brauchte mehr Milch! Ich legte die Kleine ganz vorsichtig zurück in ihr Bettchen. Überhaupt: Immer mehr Vorsicht kam mit ins Spiel, immer mehr sich auf Zehenspitzen bewegen. Dabei hatten wir doch bis vor Kurzem noch die Vorstellung vertreten, ein Kind solle den Alltag der Eltern begleiten und nicht umgekehrt. Das richtige Maß an Alltagsgeräuschen sei für die gewisse Abhärtung unerlässlich, um nicht hypersensibilisiert zu werden für jedes Knacken, Rascheln, Rauschen.
Doch unsere innere Anspannung drang zunehmend in den Vordergrund. Wir waren auf Habacht, verfolgten jede ihrer Regungen, hielten den Atem über ihrer Wiege an, um sie nicht zu stören und konnten dennoch nicht den Wunsch nach einer Regung ihrerseits unterdrücken, weil auch der Schatten des plötzlichen Kindstods uns in Aufregung versetzte.
Richtig papp satt ist sie nun, dachte ich, und drehte mich in dem Bewusstsein auf die andere Seite, dass ich nun bis in die frühen Morgenstunden würde Ruhe finden können. Ein letzter Blick auf den Wecker verifizierte meine Annahme von 2 Uhr in der Frühe. Bis um 6 Uhr würde sie ja nun hoffentlich durchhalten.
Damals begann mir mein Zeitgefühl abhanden zu kommen. Um halb 4 vernahm ich bereits erneut Laute meiner Tochter, doch hatte ich zwischenzeitlich eigentlich selber geschlafen? Ein Blick in ihr Bettchen bestätigte meine Vermutung, dass die Kleine wieder im Begriff war zu erwachen. Um dem Geschrei vorzubeugen nahm ich sie mit einem sicheren Griff und legte sie an. Voller Gier fing sie an zu trinken, hastig schluckte sie dabei auch viel Luft. Die These des Wachstumsschubes schien damit bestätigt. Sie brauchte einfach mehr Milch. Die sollte sie kriegen, dachte ich mir und trank ab dato an den Abenden Malzbier, auch Ammenbier genannt, zur Anregung der eigenen Milchproduktion. Wenn sie zu den Mahlzeiten doch nur die richtige Menge zu sich nehmen würde, so würden auch die Abstände in den Nächten wieder länger. Diese Logik musste aufgehen dachte ich und fing an, ein Schlaf- und Stillprotokoll zu führen. 15,5 Stunden Schlafbedarf ermittelte ich innerhalb der ersten 24 Stunden. Zudem zehn Mahlzeiten. Doch wie viel trank sie eigentlich an der Brust? Ich wog meine Tochter erst vor der Mahlzeit, dann nach der Mahlzeit und ermittelte eine Differenz von 150 gr. Sollte das alles sein? Ich rief den Kinderarzt an. Ad libitum, sei heutzutage die Devise, beruhigte er mich doch wie ernst ist das Stillen nach dieser Methode gemeint, wenn das Kind davon nicht zunimmt?
Schon am nächsten Tag schlief L. nur noch 13 Stunden und kam zudem mit sieben Mahlzeiten aus. Im Idealfall würde sie davon zwölf Stunden in der Nacht schlafen und die Mahlzeiten auf den Tag verteilen. Notfalls würde ich sie dafür tagsüber auch einmal wach halten müssen, gab eine Freundin zum Besten, die selber, leider ungewollt kinderlos, auch zukünftig noch einige Ratschläge für mich parat hielt.
Während meine Beleghebamme mir in dieser Phase ein „Durchschlafbuch“ empfahl, machte sich mein Mann darüber lustig, dass ich unserem Baby mit Plänen und Statistiken zu Leibe rücken wollte. Mit Akribie analysierte ich ihr Schlaf- und Essverhalten, das sich permanent änderte. Wie sollte ich da hinterher kommen?! Ich tüfftelte an neuen Methoden, um unsere Tochter zum Durchschlafen zu bringen, lag dafür Nächte lang wach, registrierte und interpretierte jeden Seufzer aus der nebenstehenden Wiege und beraubte mich somit selber meiner Nachtruhe.
Der nächste Morgen begann voller Tatendrang bezüglich unserer Tochter und voller zermürbender Selbstzweifel mir gegenüber. Wie konnte es sein? – Gaben wir ihr nicht die entsprechenden Hilfen, um in einen mehrere Stunden dauernden Schlaf zu fallen? Wir wussten es nicht und doch versteiften wir uns auf eine Lösung des Problems; wir versagten uns Geduld und Zuversicht und führten stattdessen Tagebuch über Misserfolge und Rückschritte. Ratlosigkeit beschlich uns.
Auch der Austausch mit anderen Müttern brachte keine Erleuchtung. Von völlig unbeeindruckten Babys ließen wir uns berichten, die in keinerlei Hinsicht von abendlichen Einschlafritualen abhängig waren und egal wo und wie die ganze Nacht durchschliefen. Wieder andere Mütter berichteten, dass ihre Kinder nur in den Schlaf fanden, wenn sie sich selbst daneben legten, wobei sie jedoch meist auch selbst dabei einschliefen und die wertvollen Abendstunden nicht mehr mit dem Partner gemeinsam verbracht wurden.
Wir fühlten uns von keiner Version angesprochen.
Ich ging zunehmend auf dem Schlauch. Ich merkte, wie ich mich in etwas verbiss, von dem ich wusste, dass die Zeit es schon richten würde. Innerlich wusste ich längst, dass unsere Tochter den nötigen Schlaf bekam und es an mir läge, diese Phasen zu nutzen. Erziehung fängt noch früh genug an, sagte ich mir, aber ich glaubte mir nicht. Ich wollte es nicht glauben, was ich längst wusste, dass ich diejenige war, die ein Schlafproblem hatte, längst nicht unsere Tochter!
Auch andere Gedanken gingen mir damals durch den Kopf, als unsere Tochter etwa drei Monate alt war. So wurde mir bewusst, dass ich andere Kontakte, Kontakte zu Nicht-Müttern schleifen ließ. Ich war nur noch damit beschäftigt, meiner Tochter auf der Spur zu bleiben, dass ich vergaß, zu leben und das Leben mit ihr zu genießen. Ich beschloss andere Kontakte wieder aufleben zu lassen, um selber auf andere Gedanken zu kommen. Menschen, die mir vor der Schwangerschaft gute Freunde im Leben waren sollte wieder dichter heranrücken, sollten uns die Gelassenheit und Geduld zurückbringen, die nun seit einiger Zeit auf der Strecke blieb. Eine große Verantwortung, eine große Erwartung verband mich mit diesem Vorhaben.
Und prompt gestaltete es sich schwierig. Meine beste Freundin, zu der ich immer ein sehr unkompliziertes, ausgeglichenes Verhältnis hatte, hat mir schon während meiner SS prophezeit, dass Kinder die Freundschaften veränderten. Damals trafen wir uns noch regelmäßig, d.h. ein bis zweimal in der Woche, zwischendurch telefonierten wir. Wir hatten auch einen gemeinsamen Abend in der Woche, den wir zu dritt, d.h. gemeinsam mit meinem Mann verbrachten. Sie war eine gute Freundin meiner Familie - auch meine Eltern mochten sie sehr. Doch etwa vier Wochen vor dem Stichtag machte sie sich plötzlich rar. Während sie in den Monaten der SS noch rege interessiert war an dem Gedeihen des ungeborenen Lebens, war sie in den letzten Wochen vor der Geburt kaum mehr zu erreichen, erkundigte sich nicht mehr nach meinem Wohlbefinden und war schließlich eine der letzten, die erst einige Tage nach der Entbindung von der Ankunft unserer Tochter erfuhr. Sie gratulierte mir einmal im Vorübergehen am Telefon, doch das Gespräch war stockend und brach schließlich ab. Zu ungewohnt noch für uns beide diese neue Situation.
Nachdem ich mich einige Wochen lang zu Hause eingelebt hatte, unternahm ich eines Morgens einen Spaziergang zu ihrer Arbeitsstätte, wo ich unangemeldet eintraf. Sie überreichte mir ein Geschenk mit den Worten, sie hasse es, Kindersachen auszuwählen, sie hätte dafür überhaupt kein Händchen, dennoch wollte sie es sich nicht nehmen lassen, etwas zu überreichen, auch wenn es ja nun wohl zu spät sei, für unsere Tochter zu wünschen, besser nicht geboren worden zu sein.
Meine Freundin hatte schon immer ein depressives Gemüt, ich verstand ihren Ausspruch nicht falsch, sondern wusste sehr wohl, dass sie – wie Adorno in Minima Moralia – an das richtige Leben im falschen nicht glaubte.
Ich öffnete das Päckchen, es waren süße Bio-Baumwoll-Kleider und ein Mobilé, ich freute mich, doch meine Freundin schaute nur von ferne in den Kinderwagen, dann auf meinen Bauch, fragte, ob der sich noch weiter zurückbilde und signalisierte mir mit den Worten, man könne sich dann ja demnächst mal für einen Spaziergang treffen, dass sie nun weiterzuarbeiten habe.
Einige Tage später rief ich sie an. Ich erzählte ihr von den ersten Tagen zu Hause, von der Aufregung, die unsere Tochter verursachte, von der Freude, die sie in uns auslöste. Meine Freundin hielt sich kurz. Wir verblieben unverbindlich. Wieder einige Tage später besuchte ich sie erneut auf der Arbeit. Ich sähe fertig aus, kommentierte sie meine Ankunft. Ich käme wohl nicht mehr so recht zu meiner Nachtruhe, mutmaßte sie mit einem Grinsen. Sie selber kenne es nur vom Hören-Sagen, aber es müsse schrecklich sein, nachts nicht mehr zu Schlaf zu kommen, ob ich sehr darunter leide, fragte sie. Nein, antwortete ich, es seien schließlich erst wenige Wochen ins Land gegangen und noch hätte ich Kapazitäten. Doch schon damals spürte ich, dass es nicht stimmte. Es war einer der ersten Momente, an den ich mich noch sehr konkret erinnere, dass ich meine damals beste Freundin bewusst anlog, weil ich sie meine Schwäche nicht spüren lassen wollte. Denn es war schrecklich, nachts nicht mehr in den Schlaf zu finden! Ich war müde und erschöpft. Das Stillen zehrte an meinen Kräften, ich verlor Gewicht. Meine Tochter erfüllte mich mit Ratlosigkeit hinsichtlich ihrer Schlaf-Wach- Rhythmuses, doch ihr gegenüber blieb ich dabei, es gehörte schließlich zum Muttersein dazu. Ich wollte ihren Mutmaßungen kein Futter bieten, dass Kinder die Freundschaften veränderten. Ich wollte ganz die alte Form wahren, ihr beweisen, dass nichts sich geändert hatte zwischen ihr und mir.
Wir kamen nicht ins Gespräch, sie hatte zu viel Arbeit, meine Kleine verlangte nach der Brust, ich verkrümelte mich zum Stillen in einen Nebenraum, meine Freundin gab sich diskret, konnte aber nicht verhehlen, dass es ihr komisch anmutete, mich stillend zu erleben. Ich versuchte drüber hinwegzugehen, spürte aber damals schon, dass eine Kluft sich aufgetan hatte zwischen uns. Ich merkte, wie dies meine Loyalität herausforderte. Durfte ich auf das Weinen meines Babys in ihrem Beisein überhaupt reagieren, oder sollte ich es herunterspielen, mich cool und selbstsicher zeigen und meine Kleine auch mal schreien lassen? Welche Mutterrolle erwartete meine Freundin von mir? Welche Mutterrolle sah ich für mich selber vor?
Ich ging sie fortan immer seltener besuchen. Es stimmte mich traurig, weil es mir einst ein sehr angenehmes Ziel war, aber ich fühlte mich nicht willkommen. Ich spürte, wie sich der Abstand zwischen uns vergrößerte. Ich war nicht mehr auf dem Laufenden was ihre Belange anging und teilte mich selber kaum noch mit, verharmloste meine zunehmenden Gefühlsschwankungen, die Unsicherheiten im Umgang mit dem Baby, die Rastlosigkeit des nachts, wenn ich über den Schlaf meiner Tochter wachte, um mir dabei selber die so erforderliche Nachtruhe zu vergönnen.
Der Winter kam. Das Wetter wurde schlechter, die Tage kürzer. Ich irrte durch die Straßen, machte einen großen Bogen um ihren Arbeitsplatz. Zuhause wartete ich auf eine Nachricht doch sie blieb aus.
Ich rief meine Freundin an. Im Telefonat näherten wir uns vorsichtig, nach einiger Zeit sprachen wir etwas gelöster, fanden aber doch nicht zu unserer alten Form zurück. Meine Freundin lebt allein - ihre erste und einzige Beziehung führte sie vor etlichen Jahren mit einer Frau. Obwohl sie sich grundsätzlich auch für Männer erwärmen könnte, scheiterte die Realisierung einer Partnerschaft bislang immer. Wir haben das oft analysiert. Dabei blieb auch nie unerwähnt, dass sie die gemeinsame Zeit mit uns auch deshalb so genoss, weil es ihr ein Stück Familienleben vermittelte. Es war kein Geheimnis, auch mein Mann war sich dessen bewusst, wir freuten uns, dass sie sich bei uns geborgen fühlte und dass sie unsere Beziehung offensichtlich auch als angenehm empfand.
Als ich damals schwanger wurde, vertraute ich ihr als eine der ersten – noch vor Ablauf der heiklen 12 Wochen – unsere Neuigkeit mit. Sie freute sich mit uns, sie war schon öfter auf dies Thema zu sprechen gekommen, wir wussten von ihr, dass sie Kinder mochte. Sie erzählte uns oft von den Entwicklungssprüngen der Kinder anderer. Doch immer wieder betonte sie auch, dass Kinder die Freundschaften veränderten, als betrieb sie im Stillen Prophylaxe für eine dahinscheidende Freundschaft. Wir ließen diesen Ausspruch unkommentiert, vor lauter Vorfreude auf das Baby drang er damals gar nicht ganz bis zu uns vor.
Ich wusste wohl, was sie meinte. Hatte ich doch selber nur oft genug Gespräche zwischen anderen Müttern verfolgt und festgestellt, dass deren Kinder das alles bestimmende Thema waren. Es blieb kaum noch Platz für anderes. Doch dieser Kategorie wollte ich mich nicht zugehörig fühlen Ich malte mir aus, wie ich mit meiner Freundin lange Spaziergänge unternahm, den Kinderwagen vor mir herschiebend. Intensiv ins Gespräch vertieft würden wir picknicken und eine Tasse Tee zu uns nehmen. Meine Tochter wäre wie ein stiller Zuhörer, der sich nicht in den Mittelpunkt drängte und uns den Raum ließ, den wir für uns brauchten.
Doch der Winter war lang. Das war Wetter hielt sich schlecht und war ganz und gar nicht einladend zum draußen Verweilen. So blieb ich viel für mich, sorgte für mein Baby und erledigte nur das Nötigste. Gegen Abend erwartete ich meinen Mann zurück. Mich plagte das schlechte Gewissen, weder eingekauft, noch gekocht zu haben. Obwohl doch die Kleine so pflegeleicht und zufrieden war, hatte ich es wieder nur geschafft, meine Schlafgarderobe gegen einen Hausanzug auszutauschen.
Es ging auf Weihnachten zu, kein Lebenszeichen von meiner Freundin. Ich rief sie an. Erzählte ihr, dass ich mich schlechter fühlte, nicht mehr schlafen konnte. Dass ich sie vermisste. Ja, sagte sie, der Kontakt sei sporadisch geworden. Sie wage es nicht, mich anzurufen, wolle nicht stören, sagte sie mir. Die junge Familie müsse sich schließlich erst zusammenfinden. Ich spürte ihre Eifersucht und sprach es an. Sie gab zu, nicht zu wissen, welchen Platz sie noch bei uns einnahm und ob wir noch Kapazitäten für sie hätten. Wir trafen uns zum Kaffee. Ich offenbarte ihr, wie traurig mich der zunehmende Abstand zu ihr machte. Ich musste weinen. Sie nahm kaum Notiz davon, auch nicht von meiner Tochter. Erwähnte nur zwischendurch, sie habe die gleichen engstehenden Augen wie ich. Das schüttere Haar dagegen sei wohl eher vom Vater. Ich schaltete nicht gleich. Abends trieb es mir dann die Tränen in die Augen. Ich begriff diese Schamlosigkeit erst, als sie schon zu einer Verletzung geführt hatte. Gleichzeitig wollte ich ihren Kommentaren nicht zu viel Gewicht verleihen, doch es gelang mir immer schlechter. Täglich spürte ich, wie mein Ärger über sie wuchs. Ich verstand ihre Wut, ihre Sticheleien nicht. Dabei hatte ich ihr doch versucht zu verstehen zu geben, dass ich sie vermisste, dass sich doch nichts geändert hatte zwischen ihr und mir, dass meine Tochter doch hoffentlich nicht zwischen uns stand. Ich freute mich immer seltener über all die Fortschritte meiner Tochter. Des Nachts schlief ich nicht, ich grübelte. Tagsüber wartete ich auf einen versöhnlichen Anruf, ein Angebot der Wiedergutmachung. Doch vergebens. Die Wohnung war still. Sie blieb still, bis mein Mann in den frühen Abendstunden von der Arbeit kam. Erschöpft von einer unruhigen Nacht und einem langen Tag, umgeben von vielen Menschen, mit dem Bedürfnis nach Ruhe stand er in der Tür gelehnt, bestaunte unsere Tochter, bedauerte meinen Zustand. Sorgenvoll wanderte sein Blick an mir auf und ab. Er ahnte es schon. Er kannte mich schließlich.
Eines Tages rief sie an. Ihr Chef brauchte für Renovierungsarbeiten eine Leiter, sie wollte kommen, um unsere zu borgen. Als sie in der Tür stand, würdigte sie mich kaum eines Blickes. Sie sprach mit meinem Mann, folgte uns durch die Wohnung und stahl sich mit der Leiter wieder davon. Abends griff ich zum Telefon. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich musste sie zur Rede stellen, wollte nicht mehr länger in der Ungewissheit leben, was sich zwischen uns ereignet haben könnte, dass meine Freundin so sehr den Abstand brauchte. Oder übertrat ich mit meinem Anruf die Grenze? War ihr Verhalten nicht Signal genug, dass sie momentan ihre Ruhe brauchte? Doch ich empfand den nachmittäglichen Besuch beleidigend. Dafür war ich mir zu schade, also griff ich zum Hörer, doch sie ging nicht ran. Sie war zu ihren Eltern in den Süden gefahren, erfuhr ich vom Chef, noch bis Ende nächster Woche. Ich blieb mit meiner Wut zurück. Immer wieder nahm ich mir vor, die Gefühle nicht zu sehr hoch kochen zu lassen, sondern sie lieber in die Beziehung zu meiner Tochter zu investieren. Vergebens.
Ich spürte, wie es mir immer weniger gelang, die Auseinandersetzung mit meiner Freundin aus dem Alltagsgeschehen herauszuhalten und ertappte mich dabei, wie ich mit erregter Stimme meiner Tochter beim Wickeln Wortkaskaden voller Wut entgegenschleuderte, bis diese ängstlich zu weinen anfing. Ich war aufgewühlt, wollte etwas unternehmen, was Klarheit schaffte, brauchte jemanden zum Reden doch niemand bot sich mir an. Ich mochte mich niemandem anvertrauen, weil ich zunehmend spürte, wie meine Gefühle für diese Zwistigkeit ins Unangemessene stiegen und ahnte, dass mir die Verhältnismäßigkeit abhanden kam. Meine Wut und Enttäuschung erschien mir selbst unangemessen und ich ermahnte mich, den Alltag mit meiner Tochter wieder mehr zu genießen, mich über ihr gesundes Gedeihen zu freuen und den Kontakt zu anderen Müttern herzustellen. Aber es gelang mir nicht.
Wieder trieb es mich raus durch die Stadt. Der Winter war eisig. Ich spürte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte, wenn ich mir ein Zusammentreffen mit meiner Freundin ausmalte. Ich grübelte lange im Bett, weckte meinen Mann, suchte immer wieder nach Erklärungen, nach Worten, nach Vorwürfen und Entschuldigungen im Wechsel.
Schließlich fasste ich mir erneut ein Herz und stellte wieder den Kontakt her. Sie sagte, es ginge ihr schlecht, ihr Rheuma habe sich witterungsbedingt wieder verschlechtert, sie sei zu dem auch wieder in einer depressiven Phase, wolle mich damit aber nicht belasten. Ein Gefühl der Leere blieb zurück. Ich hatte mir so viel von einem Gespräch versprochen, hatte auch den inneren Wunsch noch nicht aufgegeben, meine Freundin würde meine Tochter einmal richtig kennenlernen. Doch meine Wünsche kannten keinen Adressaten. Nichts sah nach einer versöhnlichen, einvernehmlichen Lösung aus. Das Grübeln nahm kein Ende. Es hielt mich wach, ließ mich nicht zur Ruhe, nicht auf andere Gedanken kommen, artete zur Schlaflosigkeit aus. Die Tage, obwohl sie immer kürzer wurden, zogen sich unendlich lang. Undankbares Weib, schimpfte ich mich selber aus, bringst ein gesundes Mädchen zur Welt und scherst dich mehr um eine Freundin, der eine Laus über die Leber gelaufen ist. Ich weinte viel in diesen Tagen. Bat meine Eltern bei der Betreuung des Kindes um Unterstützung. Meine Mutter war kurz davor, das Gespräch mit besagter Freundin zu suchen. Ich konnte sie davon abhalten. Warum dominierte mich dieser Gedanke an sie derart? Welche Bedeutung maß ich unserem Verhältnis bei, führte ich eine Beziehung mit ihr? War sie mir Rechenschaft schuldig? Ich gestand mir die Enttäuschung ein ums andere Mal ein, konnte nicht anders, als zu denken, unsere Tochter nur auf Kosten dieser Freundschaft bekommen zu haben. Wut auch auf meine Tochter beschlich mich und nahm schließlich gänzlich von mir Besitz. Ich konnte nicht mehr unterscheiden zwischen der Wut auf meine Freundin, auf mich oder meine Tochter. Nur mein Mann blieb verschont, innerlich wissend, in ihm die größte und bedeutsamste Stütze meines Lebens gefunden zu haben. Innerlich rasend offenbarte sich nackt vor dem Spiegel das ganze Ausmaß. Die Arme aufgeschnitten, abgemagert auf 45 kg.
Etwas Schicksalhaftes lag in der Luft, etwas würde sich ereignen, etwas musste sich ereignen, damit alles einen Sinn bekam. Ich versuchte zu atmen, zu schlafen, zu essen. Doch es gelang mir nicht. Ich konnte nichts mehr zu mir nehmen, nachts tat ich kein Auge zu. Ich sah mich nur noch in der Pflicht, das Überleben des mir anvertrauten Schützlings zu gewährleisten, damit sich der hohe Preis auch gelohnt hatte. Doch was bedurfte es alles für dieses Kind? Es brauchte doch mehr als Mutters Brust, es brauchte fröhliche Ansprache, Zuneigung, Geborgenheit, Trost. Ich konnte es nicht mehr geben. Ich brauchte Hilfe. Es wurden Gespräche geführt, mit Psychologen, Neurologen. Ein Medikamenten-Cocktail wurde zusammengestellt, der mich ruhig stellte. Meine Schlaflosigkeit stand mir ins Gesicht geschrieben, unhaltbar der Zustand.
Der nächste Morgen begann mit Kopfschmerzen. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, der Mund war trocken, ich sah verschwommen, ich schwitze, zitterte. Die Kleine schrie. War die Milch sauer? Wie ein Film liefen die Tage ab – ich hatte keinen Überblick mehr, schritt von Zimmer zu Zimmer, mein Mädchen auf dem Arm. Herzklopfen. Trauer. Unverständnis. Altglas, Altpapier, alles stapelte sich in unsere kleine Wohnung, die doch noch vor drei Monaten ein sicheres Nest für das sehnsuchtsvoll erwartete Baby war. Nicht mehr nur die Beziehung zu meiner Freundin, mein ganzes Leben erschien mir sinnlos und einsam. Ich hatte das Gefühl, mein Leben geopfert zu haben, verdammt war ich, diesen Zustand auszuhalten, um damit für andere Opfer zu bringen. Für meine Tochter, für meine Freundin an erster Stelle. Es ging nicht. Es ging nicht weiter, keinen Tag. Es wurde beratschlagt, Kliniken kontaktiert, mir immer wieder vergewissert, dass nicht ich das Problem hätte, sondern meine Freundin. Es kam nicht an, drang keinen Zentimetern in meine Hirnarsenale vor. Ich konnte es nur noch hören, kein Wort davon verstehen.
Auch die Enttäuschung über meinen Zustand im Allgemeinen wuchs. Hatte ich mich doch erst nach reiflicher Überlegung und jahrelanger Psychotherapie für ein Kind entscheiden können, nachdem ich mich sicher glaubte, den Depressionen endgültig den Rücken kehren zu können. Sollte sich alles wiederholen? Woher sollte ich die Kapazitäten nehmen, mich wieder mir zu widmen, wie ich es einst getan hatte, als ich noch viermal in der Woche zur Psychoanalyse ging, als mir der Psychoanalytiker näher stand, als Ehemann, Eltern oder Freunde. Diese Zeit konnte und durfte sich nicht wiederholen, hatte ich doch jetzt andere Aufgaben.
Von Tag zu Tag wurde neu entschieden: zu Hause mit Kind oder ohne Kind in die Klinik? Ohne Kind? Auch das konnte ich mir nicht mehr vorstelle. So schwer mir die Versorgung fiel, so sehr fühlte ich mich in einer instinktiven Verantwortung meiner Tochter gegenüber. Diese aufzugeben und alleine in die Klinik zu gehen, hätte die Situation verschlimmert, dessen war ich mir sicher. Ich blieb zu Hause, man akzeptierte meine Entscheidung. Ich zog mich in mich zurück. Die Medikamente taten ihr übriges. Apathisch saß ich zu Hause, konnte aber die Versorgung des Babys kaum mehr leisten und gewährleisten. Die Wäsche blieb liegen, das Baby nicht frisch, Post blieb unbeantwortet und das Telefon klingelte ins Leere. Keinem gelang es mehr, einen inneren Draht zu mir herzustellen.
Eine Haushaltshilfe wurde beantragt, ein hilfloses Mütterchen, der es dennoch besser gelang als mir, meine Tochter zu versorgen. Selbstvorwürfe prägten den Alltag. Wie hatte ich es nur so weit kommen lassen und unser Nest dem Unfrieden ausgesetzt? Warum sollte es mir nicht einmal, in einer so wichtigen Lebensphase gelingen, mich mit dem, was ich hatte, zufrieden zu geben? Nein, ich brauchte noch das I-Tüpfelchen für mein Glück und sollte mir das verwehrt werden, war ich bereit, alles hinzuschmeißen. Ich hasste mich für meine Gedanken. Ich empfand mich als Zumutung.
Ich bekam zu spüren, was es bedeutet, ruhig gestellt zu sein. Innerlich aufgewühlt, aber unfähig, dieser Unruhe nachzukommen, war ich verdammt dazu, der Haushaltshilfe bei der Haushaltsführung zuzusehen. Mein Baby alleine für sich in einem anderen Raum, sowieso innerlich nicht mehr mir zugehörig. Zu dritt verliefen die Vormittage, ich habe mich nie zuvor in meinem Leben so einsam gefühlt.
Als der Frühling kam, besserte sich mein Zustand. Man hatte eine gravierende Schilddrüsenüberfunktion diagnostiziert, deren Symptome sich nach etlichen Arztbesuchen durch die richtige Medikation unterdrücken ließen. Antidepressiva und Schlaftabletten taten ihr übriges. Ich atmete das erste Mal seit der Geburt wieder tief in den Bauch hinein. Wie elektrisiert staunte ich über unser Baby, die Fortschritte, die sie in einem halben Jahr gemacht hatte. Ich konnte kaum glauben, dass sie von uns war und spürte plötzlich, dass sie in der ganzen Zeit ganz dicht bei mir gewesen war. Sie erkannte mich als ihre Mutter, sie erkannte mich an. Das rührte mich so, schreckliche Schuldgefühle überkamen mich, ihre Geduld, ihre Angewiesenheit und ihr Zutrauen durch Missachtung missbraucht zu haben. Sie hat doch nur die eine Mutter, sagte ich mir und ich schämte mich so für meine narzistischen Gedanken in Bezug auf meine Freundin. Mein Baby und ich, warum konnte es mir nicht genug sein, warum musste es immer mehr sein, war ich denn nie zufrieden?
Ein Stein löste sich, als ich erkannte, dass sich diese Fragen nicht auf meine Freundin und auch nicht auf mein Baby bezogen. Denn diese Fragen waren schon vor dem Baby da gewesen, sie waren älter als Du, hörst Du, mein Kind? Du hast sie nicht verursacht, Du hast sie nur ausgelöst und ihnen durch Deine Ankunft in unserer Mitte neue Aktualität verliehen. Ja, mein Pückchen, das hast Du, dazu warst Du fähig mit Deinen wenigen Monaten.
Mein Therapeut sagte einmal, ich könne mich niemals ohne den anderen denken. Immer sei ich gedanklich dabei, mit dem anderen zu verschmelzen, mich ihm gleich zu machen, mich ihm anzupassen, seine Gedanken und Gefühle zu antizipieren, ja gleichermaßen vorwegzunehmen, noch ehe der andere ihrer selbst gewahr werden konnte.
Wie Zelig im gleichnamigen Film von Woody Allen, der, einem Chamäleon gleich, mit den Menschen seiner Umwelt verschmilzt, bis er schier unsichtbar wird. Zum Scheitern verurteiltes Vorhaben.
Dies ist die charmante Version. Meine Version ist, dass ich mit diesem Verhalten permanent dabei bin, die Grenzen der anderen zu verletzen. Denn wer sagt mir, dass ich richtig liege, in meiner Interpretation der Gefühle anderer? Woher rührt dieses Verhalten überhaupt? Woher stammt die Angst, autonom zu sein? Oder ist es gar keine Angst, sondern nur eine Unfähigkeit und schließlich Angewohnheit, die ihren Ursprung in meinen frühen Jahren hat? Ich weiß es nicht, mein Kind. Ich weiß nur, dass nicht Du diejenige sein sollst, die meine Bedürftigkeit befriedigt. Du würdest es eh nicht können. Vielleicht habe ich das all die Monate nach Deiner Geburt gespürt, wie wichtig es ist, dass ich Dir Autonomie vermittele, Autonomie, die ich selber nicht zu kennen scheine. Vielleicht hat mir deshalb die Vorstellung nicht behagt, ich sei mit Dir weiterhin verschmolzen, nachdem ich Dich doch gerade ent-bunden hatte. Vielleicht daher die Fokussierung und Fixierung auf meine Freundin? Um Dich zu schützen?
Ich weiß inzwischen, dass niemand meine Bedürftigkeit dauerhaft befriedigen kann, der auf die von mir forcierte Art und Weise meinen Wünschen nachkommt. Nicht Du, nicht Papa, nicht eine Freundin. Diese Bedürftigkeit in mir drin ist die Bedürftigkeit eines Kindes.
Nur meine Mutter hätte es gekonnt. Damals. Aber sie konnte es eben nicht. Leider. Pückchen, hörst Du, ich will alles besser machen mit Dir, aber das hat meine Mutter auch gesagt. Und ihre Mutter auch. Vielleicht ist es das, was wir als Mütter lernen können, dass wir es anders gut und anders schlecht machen werden mit unseren Kindern. Und dass es auch für unsere Kinder einen Weg geben wird, damit umzugehen, wenn wir ihnen das entsprechende Rüstzeug dazu vermitteln, Autonomie zum Beispiel. Das richtige Maß, wie so oft. Das Mittelding zwischen Hingabe und Selbstbestimmung, zwischen Empathie und Abgrenzung, zwischen Freund und Feind, zwischen Mutter und Kind. Ich übe mich noch, sei geduldig mit mir!
Deine Mama