bei mir ist der Knoten geplatzt - Achtung langer Bericht

Austausch persönlicher Erfahrung mit der Depression/Psychose vor und nach der Geburt

Moderator: Moderatoren

Antworten
sol

bei mir ist der Knoten geplatzt - Achtung langer Bericht

Beitrag von sol »

Ein Teil meiner Geschichte

Vorweg: manches habe ich in Auszügen an anderen Stellen geschrieben, ich wollte die vergangenen Monaten Revue passieren lassen. Es ist deshalb etwas länger geworden.

Wo fange ich an?

Akut begann meine Krankheit Ostern 2006 als wir im Urlaub bei Freunden waren. Da merkte ich, dass trotz schönstem Sonnenschein ich nur noch traurig war. Unsere jüngste Tochter Flavia war gerade mal 6 Wochen alt und doch bekam ich Stimmungsschwankungen ohne Ende. Am Anfang dachte ich erst noch, dass sind meine Hormone…
Im Mai wurde es so schlimm, dass ich nur noch da saß und heulen konnte. Es kamen aber nie Tränen, ich war traurig ohne Ende und nichts konnte mich erheitern. Ich fühlte mich einfach leer- sinnlos.
In diesem Zustand griff ich zum Telefon und rief meine Gynäkologin an, die meinte nur: Na da helfen jetzt ein paar Kügelchen auch nicht und ich sollte das mit meiner Therapeutin besprechen und ich bräuchte andere Hilfe. Sie könnte mir da nicht weiterhelfen.
Da ich bereits nach der Geburt von Amaya (unserer 2. Tochter) und dem Tod meiner Mutter (sie verstarb an unsichtbaren schwarzen Hautkrebs, 5 Tage nach ihrer Geburt am 5.9.2004) bereits in Behandlung bei einer Psychoanalytikerin bin, wand ich mich erst einmal an sie. So ging ich daraufhin erst einmal zu meinem Hausarzt, der sofort die Diagnose „Postpartale Depression“ feststellte. Da ich Flavia ja immer noch stillte, riet er mir einen Psychiater aufzusuchen um das Thema Antidepressiva mit ihm abzustimmen. Für mich hatte meine Krankheit erst einmal einen Namen bekommen. Der Psychiater war gegen die Einnahme von Antidepressiva und gleichzeitigen Stillen. Wenigsten verschrieb er mir für 14 Tage dann eine Haushaltshilfe. Ich machte mich dann auf die Suche im Internet und fand die Selbsthilfeorganisation „Schatten und Licht“. Dort las ich sehr viel zu dem Thema, auch über die Möglichkeit Antidepressiva einzunehmen beim gleichzeitigen Stillen. Aber die 2 Ärzte in Hannover wollten davon nichts wissen. So entschied ich mich für den Weg ohne Antidepressiva, denn ich wollte Flavia weiter stillen. Gleichzeitig fing ich ganz aktiv bei unserer bilingualen Krabbelgruppe, die wir zum 1.8.06 eröffnen wollten, mitzugestalten. Als Initiatorin hatte ich neben 3 Kindern im Alter von 7 Jahren, fast 2 Jahren und 4 Monaten reichlich zu tun. Ich habe mich im wahrsten Sinne mit Arbeit zugeschüttet. Nach den Sommerferien wurde es auch nicht weniger, denn es gab ja einiges an organisatorischen Sachen für die Krabbelgruppe zu erledigen. Gleichzeitig fing Flavia an, alle 2 Stunden nachts wach zu werden. Am Anfang dachte ich noch, na die bekommt wohl Zähne, hat einen Wachstumsschub oder ähnliches….Als 6 Wochen so vergingen, konnte ich einfach nicht mehr. So rief ich meine betreuende Hebamme aus der 2. Schwangerschaft an und erzählte ihr meine Schlafproblematik. Sie meinte, dass Flavia nicht nachts alle 2 Std. trinken müsste. So entschloss ich mich, damit aufzuhören und die erste nachts verbrachten wir dann schlaflos. Flavia schrie nur noch- ich kann jetzt die Mütter verstehen, die ihr Kind irgendwann mal aus dem Fenster werfen wollen. Die 2. Nacht war auch nicht viel besser. 48 Std. kein Schlaf. Danach 2 Nächte mit 2x2Std. bzw. 1x4 Std. Schlaf. ich konnte nicht mehr. Schlafentzug ist Folter. Am Freitagabend dann ging ich zu meiner Schwester um wenigsten endlich mal ein wenig zu schlafen. Selbst mit 2 Gläsern Wein konnte ich kaum schlafen. 6 Std. war dann schon viel für mich. Mein Hausarzt hatte mir an dem Tag bereits ein Antidepressiva verschrieben. Als ich den Beipackzettel las, wurde mir schlecht. Was sollte ich denn außerdem machen, wenn Flavia die Flasche nicht nahm? Na ja ich nahm es erst mal nicht, sondern versuchte mit hömöop. Mitteln wieder zum Schlafen zu kommen. Wie ich es erahnte hatte, verweigerte Flavia 16 Std. alles, weder Flasche noch Brei. In der Woche danach wurde es mit dem Schlafen auch kaum besser bei mir, ich hatte zwischendurch mal einen Tag, wo ich im Wohnzimmer schlief (inklusiv Ohrstöpsel und Schlafmittel) aber da war ich einfach zu aufgedreht. Neben dem chron. Schlafentzug kamen Konzentrationsstörungen, Schwindelgefühl, schwarze Punkte vor den Augen etc. bis hin zu Suizidgedanken dazu. Wobei ich immer wusste, dass ich mir nie das Leben nehmen könnte, dazu liebe ich es viel zu sehr und liebe auch viel zu sehr Jorge, meinen Mann und meine 3 Kinder.
Das ganze spitze sich so zu, dass ich das Gefühl hatte, es müsste endlich mal etwas passieren. Ich hatte dann am 28.9. ein Gespräch mit meiner Therapeutin, ich war so weit, dass ich in eine Klinik gehen wollte. Im Anschluss an das Gespräch fuhr mich meine Nichte zu einem ganzheitlichen antropos. Arzt, nach Burgdorf. Nach dem ich im meine ganze Situation geschildert hatte und wir übereinkamen, dass ich absolute Bettruhe bräuchte oder sofort einen Klinikaufenthalt, warte ich liegend im Nachbarraum, während er mir noch Medikamente raussuchte bzw auch mit einer anderen Ärztin telefonierte.
In dieser Zeit fing ich an zu hyperventilieren. Ich kenne die Hyperventilation aus der Hypnosearbeit bzw. bei großen Angstattacken- jedoch diesmal war mir überhaupt nicht bewusst, was mit mir geschah. Ich merkte nur noch dass meine Arme und Beine total steif wurden und dachte erst ich bekomme einen Schlaganfall. Ich rief zwar nach dem Arzt, aber durch 2 geschlossene Türen konnte er mich nicht hören. Ich war dann nach ca. 15 Min. endlich in der Lage selbst aufzustehen und zu ihm zu gehen. Er setzte mich nur noch auf einen Stuhl und half mir ganz langsam wieder zu atmen und zurückzukommen. Danach spritzte er mir auch noch ein hömöop. Mittel. Meine Lebensenergie war fast auf dem Nullpunkt angekommen. Zum Glück holte mich meine Nichte von dem Arzt ab. ich hatte den Auftrag 5 Tage totale Bettruhe zu halten- über einen möglichen Klinikaufenthalt wollten wir danach entscheiden. Er gab mir den Vorschlag in eine antrop. Klinik zu gehen. So setzte ich mich erst einmal mit dem Thema an dem Wochenende auseinander. Für ihn war es zu dem Zeitpunkt entscheidend, dass ich überhaupt erst mal wieder Lebensenergie bekomme.
Es sollte jedoch ganz anders kommen. An dem darauf folgenden Tag, Freitag, hatte ich abends den Eindruck, dass meine Mutter neben meinem Bett stehen würde. Ich war mir bewusst, dass sie nicht wirklich neben mir stand und dass Schlafentzug Halluzinationen bewirken können, jedoch war sie da. (Geist, Phantasie?) 2 Dinge sind mir hängen geblieben, die sie zu mir sagt.
1. Ich sollte die Situation mal aus ihrer Sicht sehen.
2. Ich sollte mich um mich kümmern.
Am Sonntagabend ging es mir dann etwas besser und ich wollte endlich mal wieder etwas mit meinem Mann alleine machen, so dass wir uns ein Tango Argentino Konzert angehört haben. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Musik in Farben sehen können. Mag verrückt klingen, aber bei einigen Stücken hatte ich diese Erfahrung. Ich sagte zu mir selber nur, dass Beethoven, seine 9. Symphonie trotz Taubheit auch hat fühlen/Sehen können.
Langsam kam wieder Energie in meinen Körper zurück. Der entscheidende Punkt war jedoch der Dienstag, 3. Oktober. Mein Mann war mit allen drei Mädels im Wald. Ich lag im Bett und führte ein inneres Zwiegespräch mit meiner Mutter. Ich konnte endlich ihre Situation verstehen. Ich glaube, sie war ein sehr einsamer Mensch, konnte dies aber nicht nach außen zeigen. Sie war immer für andere da. Jede Hilfsaktion hat sie mitgemacht, aber sie hat nie auf sich selbst geachtet oder ihre eigenen Bedürfnisse wahrgenommen. Ihre regelmäßigen Migräneanfälle, Magengeschwüre und auch psychosom. Herzproblemen waren vielleicht nur Äußerungen von totaler Einsamkeit/ Depressionen. Ich habe mich ihr immer sehr verbunden gefühlt, aber ich konnte nie mit ihr wirklich über mich reden. Auch wusste ich nicht, was für ein Mensch sie wirklich war. Es war so, als ob sie mir immer ganz fremd vorkam. Sie war halt ständig in Aktion, sei es ein übertriebener Putzfimmel oder ihre Aktivitäten für andere. Sie versuchte nach außen hin immer ein Bild der heilen Familie darzustellen. Geistig und emotional jedoch war sie mir total fremd. Wir haben trotz unserer großen Familie nebeneinander her gelebt.
Im Rückblick denke ich halt, dass durch ihren frühen Tod ich nicht nur die Verlusterfahrung eines geliebten Menschen hatte, sondern dass ich sehr ähnliche Anlagen wie sie habe. Ich neige halt zu dem totalen Aktivismus und auch dazu über meine eigenen Grenzen hinweg zu arbeiten. Es musste halt erst einmal „krachen“ bevor ich dies verstehen konnte.
Ich habe jedoch jetzt begriffen, dass ich viel mehr auf mich achten muss. Nachdem ich für mich dies Selbstgespräch mit meiner Mutter beendet hatte, bin ich wie verrückt aufgestanden und in unser Arbeitszimmer gerannt. Habe dort meine Cellonoten aus dem Schrank gerissen und seit fast 3 Jahren zum ersten Mal wieder Cello gespielt. Ich habe noch nie so gut mit so viel Gefühl gespielt. Nach 1 ½ Std. war ich fix und fertig. Blasen an den Finger, aber ich fühlte mich gut. (Das war Musiktherapie pur!) Interessant war auch, dass ich nicht nur Mendelsohns Lied ohne Worte gespielt habe, sondern auch ein Klengelkonzert. Nur an Bachs Cellosuiten bin ich nicht rangegangen, das klang mir dann doch noch zu stümpert haft.
Es war so, als ob bei mir der Knoten geplatzt ist und ich endlich die Beziehung zu meiner Mutter klären konnte. Ich musste erst einmal durch die Hölle gehen, aber ich glaube, ich habe es jetzt geschafft. Ich bin sehr froh, dass mein Mann mir die letzten Monate beigestanden hat, ohne seine Liebe wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt bin. Auch hat sich mein Thema mit Therapiewechsel beendet. Zu jeder Entwicklung gehört auch Stillstand dazu, und die Analyse ist für mich auch die passende Form. Ich kann jetzt endlich wieder frohen Mutes in das Leben schauen und genieße jeden Tag.
Danke an dieser Stelle
an meinen Mann; seine Liebe ist wirklich fantastisch.
an meine Therapeutin; ihre Arbeit ist unwahrscheinlich bereichernd. Gracias.
an meine Freundin- Cellolehrerin und Psychiaterin; sie half mir immer wieder zwischendurch
und auch an dies Forum hier. Es tut gut zu wissen, dass man selbst in den schlimmsten Situationen nicht alleine ist und das es viele Frauen gibt, denen es ähnlich gibt.
Gruß
Sol
Ava

Beitrag von Ava »

WOW!!!! Wie Du das beschreibst, was Du erlebt hast, das ist einfach wunderbar - ich bin sehr berührt und freue mich für Dich! Herzlichen Glückwunsch, liebe Sol und weiterhin alles Gute

Ava
Maren25

Beitrag von Maren25 »

Das bewegt.... lange STory, aber wunderschön!

Viel Kraft auf deinem weiteren WEg!

Gruß
Maren
Antworten