Guten Abend, Lotte,
ich kann Deine Schwierigkeiten in dieser Hinsicht sehr gut nachvollziehen.
Lass mich raten - ich habe jetzt Deine Vorstellung nicht gelesen und auch sonst Deine Beiträge gerade nicht parat (Verzeihung): Du bist Anfang 20?! Hast gerade eine Ausbildung angefangen oder abgeschlossen und stehst an einem Neubeginn? Du hast ein Kind bekommen, und fragst Dich permanent, ob Du alles richtig machst?
Ich kenne solche Phasen nur zu gut - ich habe quasi die ganzen 20er so verbracht, bis ich mich endlich nach langen Therapiejahren und so etwas wie "Selbstfindung" von diesem Zögern und Zaudern distanzieren konnte.
Du schreibst doch sehr viel Wahres: Es gibt keine objektiv richtige Wahrheit, eine, die für alle gilt. Die ethischen Maximen, die Du beispielhaft heranführst sind welche, auf die wir uns hier in der "westlichen" Welt geeinigt haben. Auch sie gelten nicht überall und immer. Insofern ist natürlich eine erste Orientierung bei der Frage, was richtig und was falsch ist, unser Kulturkreis, unsere Erziehung, unser Gewordensein. Es werden uns viele Werte vermittelt auf dem Weg zum Erwachsenwerden, dem einen mehr und dem anderen weniger, und sie können als Orientierungshilfe dienen, wenn sie fest genug in uns verankert sind. Das enthebt uns nicht der Pflicht, unsere Werte immer wieder neu auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Manche Werte schmeißen wir im Laufe der Zeit über Bord, andere nehmen wir in unseren Beurteilungs- und Handlungsspielraum neu hinzu, vielleicht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn wir durch bestimmte Erfahrungen mit neuen Grenzfällen der aktuellen Moralbegründungen konfrontiert werden.
Nicht lügen, z.B. ist so eine Sache. Wo ist da die Grenze? Gibt es auch Halbwahrheiten? Ist es das gleiche, nicht zu lügen oder nur nicht die ganze Wahrheit zu erzählen? Kann es eigentlich EINE Wahrheit geben, wenn jemand von sich spricht, oder ist es nur eine subjektive Wahrheit über einen individuell erlebten Sachverhalt? Jemand, der die gleiche Geschichte erlebt hat, würde sie vermutlich ganz anders erzählen; lügt er dann?
Lotte20 hat geschrieben:
wenn ich mich mit meinem freund streite (was momentan oft der fall ist) kann ich seine argumente genauso wie meine verstehen... ich bin mittendrin, finde NICHTS wirklich richtig und nichts richtig falsch.
nur ich muss mich ja für eine option entscheiden, damit ich urteilen kann.. und nicht andauernd sage ,,ich verstehe alles, keine ahnung was meine meinung ist"
Warum kannst Du nicht annehme, dass es genauso ist, wie es Dir erscheint, nämlich dass sowohl die Argumente Deine Freundes, als auch Deine eigenen richtig sind. So was gibt es doch. Alles andere wäre Schwarz-Weiß-Denken und somit viel zu einfach. Doch ich kann Dein Bedürfnis verstehen, klarer sehen und fühlen zu wollen, was richtig ist. Dies kann keiner für Dich übernehmen. Gerade nachdenkliche Menschen haben oft das Problem, dass sie die scheinbar „einfachen“ Dinge nicht mehr „einfach“ beurteilen können. Anders strukturierte Menschen sind sich ihrer Sache dagegen immer sehr schnell sehr klar und kommen somit auch viel einfacher und bequemer durchs Leben. Jedenfalls in diesem Punkt.
Wenn Du der Prämisse zustimmst, dass es in fast keinem Sachzusammenhang eine einzige objektiv richtige Wahrheit gibt, dann gilt auch die Schlussfolgerung, dass Unentschiedenheit, Zögern, Zaudern und Abwägen obligatorisch zum Denken, Fühlen und Leben dazugehört.
Denn nichts von dem, was Dein Freund in einer Diskussion an Argumenten vorbringt ist ausschließlich richtig. Das gleiche gilt für Dich. Daraus kann doch nur eine Unentschiedenheit resultieren; die macht für mich übrigens auch deutlich, dass Du sehr empathisch bist.
Ich hoffe ich habe Dich jetzt nicht zu sehr verwirrt. Dein Thema hat mich jahrelang beschäftigt. Ich habe mich immer sehr danach gesehnt, einen eindeutigen Weg vorgezeichnet zu bekommen, der mir diktiert, was richtig und was falsch ist, der mir Antworten auf die Fragen gibt, was meine Zustimmung, was meine Ablehnung oder Enthaltung verdient etc. Doch diesen Weg gibt es nicht. Er entsteht mit der Zeit in einem selbst und ich lebe inzwischen ganz gut damit, dass ich auf die – ja, ich gestehe – allermeisten Ansichten nur mit Achselzucken reagieren kann, weil ich oft nicht weiß, welcher Position ich mich anschließen soll. Und inzwischen meine ich auch erkannt zu haben, dass eben in den meisten Fällen – gerade in Auseinandersetzungen mit anderen Menschen – alle Positionen mindestens ein bisschen richtig und ein bisschen falsch sein können. Es kommt dabei auch darauf an, wer mir was erzählt, in welcher Verfassung ich zuhöre und welches Verhältnis ich demjenigen gegenüber habe. Und das sind nun wirklich alles andere als objektive Kriterien zur Wahrheitsfindung!
Herzlichst, MICI